Leonides Costa y Ferrer

Es ist eine laue Nacht im kalten Herzen Chicagos. Vor dem „Blue Velvet“ herrscht wie jeden Abend ein reges Treiben. Gäste jeglicher Couleur warten in langer Reihe vor dem Eingang des angesagten Nachtclubs. Redend, rauchend, ganz so, als würden sie dort in ihrer Vielfalt die bleiche Mondscheibe am Nachthimmel mit einen Querschnitt der Chicagoer Bevölkerung unterhalten wollen.
Auch du hast deine sichere Heimstatt verlassen und dich auf die fahl beleuchteten Straßen vor dem „Blue Velvet“ gewagt. Doch anders als die dichten Menschentrauben, an denen du vorübereilst, bist du nicht einzig zu deinem Amüsement oder zum Stillen deines nagenden Dursts gekommen.

Als du den Club betrittst, umfasst dich die Kulisse wie ein Miasma aus Klängen, Formen und Farben, dich begrüßend wie einen lange vermissten Freund. Hättest du noch etwas Menschliches an dir, müsstest du wohl blinzeln, um deine Augen an das verrauchte Dämmerlicht des Clubs zu gewöhnen, das ab und an von gleißenden Blitzen oder dem Aufflackern bunter Lichtkegel durchbrochen wird. Die große Anzahl der Besucher verwehrt dir, das Ausmaß des Raumes abschätzen zu können, in dem du dich nun befindest. Rings um dich herum dringt laute Musik auf dich ein, ohne dass du ihre Quelle genau ausmachen könntest. Du bahnst dir einen Weg durch die Masse tanzender Körper - ekstatisch zuckende Schemen, die dich umgeben wie eine Mauer aus Fleisch. Die dicken Schwaden, die von Nebelmaschinen, Tabakqualm sowie den Ausdünstungen menschlicher Leiber herrühren, ziehen ihre Bahnen. Sie sind geschwängert vom Geruch nach Parfum, Schweiß, Bier, Hochprozentigem. Auf der gesamten Tanzfläche fühlt man sich unwillkürlich geborgen durch die Wärme, ja durch die ganze Atmosphäre, die über einen hereinbricht. Man kommt sich vor, als sei man der Bruchteil eines größeren Ganzen, von dem man zuvor gar nicht wusste, dass es existiert. Der Teil eines Kollektivs, das in einem Reigen vergessen zu scheint, dass es eine Welt vor den Toren des „Blue Velvet“ geben mag. Oder mag ein anderes Gefühl vielleicht überwiegen? Ist man vielleicht nicht doch eher einsam? Auf einer Lichtung, umringt von einem Wald aus unpersönlichen, wiegenden, lärmenden Fremden? Die Großstadt…

Am Ende der Tanzfläche gelangst du zu einer langen Bar. Du lässt deinen Blick umherschweifen, aber niemand der Gäste, die sich auf den Barhockern aneinander drängen und angeregt unterhalten, wirft dir mehr zu als einen flüchtigen Blick. Da hier keiner auf dich zu warten scheint, oder Anstalten macht, dich in ein Gespräch verwickeln zu wollen, nimmst du selbst Platz. Noch bevor du deinen ersten Drink bestellen kannst, erregt etwas deine Aufmerksamkeit. Am hinteren Ende des Tresens sitzt an einem Tisch eine Gestalt, ein Mann, der dir huldvoll zunickt. Du blickst dich um, um dich zu versichern, dass auch wirklich du gemeint bist. Niemand sonst außer dir scheint den Mann zu bemerken. Du erhebst dich und bewegst dich auf ihn zu. Der Mann – du schätzt ihn vom Äußeren auf Ende vierzig – trägt einen schwarzen Herrenanzug, geschmackvoll, aber schlicht. Das einzige auffallende Detail an ihm ist, dass er dich unablässig durch eine dunkle Sonnenbrille zu mustern scheint. Ein durchaus merkwürdiges Accessoire in einem finsteren Nachtclub. Du fragst dich vielleicht, warum du ihn nicht schon vorher bemerkt hast. War er bereits da, als du dich gesetzt hast? Beobachtet er dich schon die ganze Zeit?

Der Tisch, an den du nun trittst, ist umgeben von einer Bankreihe, die mit rotem Kunstleder überzogen ist. Außer euch beiden befindet sich niemand in diesem abgelegenen Teil des Clubs. Du schiebst es darauf, dass du nicht gleich auf ihn aufmerksam geworden bist, sowie auf die Tatsache, dass es in dieser Ecke des Raums noch um einiges finsterer ist. Das Lichterspektakel der Tanzfläche dringt nicht bis hier her und auch die Musik ist gedämpft genug, um sich in Zimmerlautstärke unterhalten zu können.

Er erhebt sich höflich, als du dich ihm näherst, sein Anzug raschelt leise.

„Schön, dass Sie Zeit gefunden haben, zu diesem Treffen zu erscheinen.“, sagt er mit ruhiger, unaufdringlicher Stimme. „Ich habe mir erlaubt, hier Ihr Kommen zu erwarten.“

Ein leichter, spanischer Akzent schwingt darin mit und verleiht seinen Worten eine exotische Dynamik. Du reichst ihm die Hand, er ergreift sie jedoch nicht, sondern deutet stattdessen eine leichte Verbeugung an, ehe er zeitgleich mit dir Platz nimmt. Während dessen ruht sein aufmerksamer Blick fortwährend auf dir. Du weißt nicht recht, wie du das Gespräch beginnen sollst, deshalb herrschen zunächst einige Sekunden Schweigen, in denen du dein Gegenüber abschätzend einer Musterung unterziehst.

Der Mann sitzt gerade vor dir, wirkt aber äußerst entspannt. Sein schulterlanges, pechschwarzes Haar – im Ansatz und besonders an den Schläfen ergraut - macht einen gut gepflegten Eindruck und wurde mit Pomade nach hinten geworfen und zu einem Zopf gebunden. Der Mann riecht unaufdringlich und dezent, nach dem süßlich-herben Duft der Pomade und einem Hauch Leder. Er ist von bleicher Hautfarbe und hagerer, wenig imposanter Statur. Das mag dich etwas verwundern, da er dir vorhin, als er sich erhoben hat, größer vorgekommen ist. Tatsächlich macht seine ganze Person auf dich einen eher unscheinbaren Eindruck. Hast du ihn deshalb übersehen?

Über seine hohe Stirn ziehen sich einige Falten, unter den buschigen, dunklen Brauen kannst du aufgrund der großen, altmodischen Sonnebrille die Augen nur erahnen. Die Brille selbst thront auf einer langen, schmalen Nase über aristokratisch geschwungene Wangenknochen. Die lippenlose, faltige Mundpartie scheint zu einem leichten Lächeln verzogen zu sein, es könnte aber auch eine Täuschung sein – das Licht an diesem Ort ist für eine genaue Beurteilung zu schlecht. Das lange Gesicht mit den markanten Zügen endet in einem spitzen Kinn, das ein prächtiger, schmaler Spitzbart ziert.
Vor dem Mann steht ein bauchiges Weinglas, gefüllt mit einer durchsichtigen rötlichen Flüssigkeit. Es handelt sich allem Anschein nach um Rotwein. Der Stiel des Glases wird umfasst von Händen, die ebenso sauber sind wie seine gesamte Erscheinung. Die Finger sind lang und dünn und weisen dicke, knorrige Fingergelenke auf. Auf seinem Handrücken sind Büschel weißen Haares zu sehen, die sich auch aus den Ärmeln seines Jacketts ringeln.

„Mein Name ist Leonides Costa y Ferrer, aber das wissen Sie womöglich bereits.“, fährt er unvermittelt mit seinem monotonen Tonfall fort.

Du stellst dich ihm vor. Er nickt anerkennend.

„Es ist immer erfreulich, sich mit neuen Gesichtern in der Stadt vertraut zu machen. Ich wollte es mir nicht nehmen lassen, Sie persönlich kennen zu lernen. Und…“ –du glaubst, nun definitiv die makellos weißen Zähne eines kurzen, aufblitzenden Lächelns zu erkennen- „…ungeachtet dessen, was man sich über mich erzählen mag, besonders über meine Zeit in Seattle, möchte ich ihnen ein klares Bild davon geben, was ich für Sie im speziellen tun kann.“

Er wartet einige Zeit, um dir Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. Du stellst ihm eine Frage.

„Was ich Ihnen anbieten kann, ist dies: Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Probleme zu lösen. Ich kenne viele verschiedene Leute in den unterschiedlichsten Positionen. Beider Welten, versteht sich…“, fügt er noch viel sagend hinzu. „Einige dieser Leute sind an meinem Rat interessiert und so manch einer unter ihnen schuldet mir mehr als einen Gefallen - oder zumindest Gehör.“

Du unterbrichst ihn vorsichtig, um ihm eine weitere Frage zu stellen. Er nickt leicht.

„Selbstverständlich möchten Sie wissen, wie Sie von meiner Arbeit profitieren können. Dazu müssen Sie wissen, wie ich arbeite. Ich mache… Vorschläge. Anregungen. Ein paar Worte zur rechten Zeit können manchmal wahre Wunder bewirken. Sie müssen nur von den richtigen Leuten vernommen werden.“ Er hebt das Glas behutsam an, als er auf deine Reaktion wartet, scheint es an seine Lippen führen zu wollen, stellt es dann jedoch wieder vor sich ab.
„Sicher, das sind Dinge, die auch die Harpyen bewirken können und so manch einer mag sich damit brüsten, dass er Kontakte zu einflussreichen Stellen hat. Und ich will mir nicht anmaßen, besser als die Nosferatu in deren eigener Domäne zu sein. Aber haben Sie sich schon einmal Gedanken über den Preis gemacht? Können Sie abschätzen, wohin Sie das führt? Können Sie darauf vertrauen, wer Ihre Freunde und Feinde sind?“

Du erwiderst etwas.

„Woher Sie wissen können, dass Sie mir vertrauen können?“ Der Mann lehnt sich nach hinten, sodass ein Schatten auf sein Gesicht fällt und seine Mine noch undurchsichtiger macht, als er sagt: „In der Gesellschaft, in die wir hineingeboren wurden, gibt es kein Vertrauen mehr. Ich indessen habe an dieser Gesellschaft keinen Anteil mehr. Ich habe keine Freunde und keine Feinde. Es gibt keinen, der mich schätzt und keinen, der mich fürchtet. Ich ergreife für niemanden Partei. Und das macht meine Arbeit so wertvoll. Meine Kunden können sich ohne Vorbehalte an mich wenden und wissen meine Diskretion durchaus zu schätzen – egal, woher sie kommen, für wen sie arbeiten oder vor wem sie ihr Knie beugen.“

Er wartet ab, bis seine Worte verhallt sind. Du fragst ihn etwas.

„Sie wollen wissen, was Sie eine Zusammenarbeit mit mir kostet?“ Er lehnt sich zu dir vor, eine der wenigen Reaktionen, die du bei dem Mann bisher gesehen hast. Ein Lichtblitz reflektiert sich in seiner Sonnenbrille. „Indem Sie mir Ihr Gehör schenken. Hier ist meine Karte…“